Deutscher Journalisten-Verband Landesverband Nordrhein-Westfalen

Der WR-Jahrestag kommt: Was wurde aus den festen und freien Ex-WRlern?

„Es tut immer noch weh“

Ein Jahr danach. Am 15. Januar 2014 werden sich viele Ehemalige der Westfälischen Rundschau (WR) treffen. Nicht zum üblichen Stammtisch, sondern zum Jahrestag. Zum Wiedersehen, Quatschen, Erfahrungsaustausch. Das gemeinsame Wundenlecken findet wahrscheinlich in einer Dortmunder Kneipe statt; der Ort steht noch nicht fest.

„Es tut noch immer weh“, sagt Mark Sonneborn, der sechs Jahre für die Rundschau arbeitete, die meiste Zeit als Pauschalist in Lüdenscheid. „Ich weiß noch genau, wo ich war, als die Nachricht kam – auf dem Weg zu Roller, Möbel kaufen. Da erreichte mich der Anruf eines Kollegen. Eine Bombe, ein Knaller.“

Der 15. Januar 2013. In einer Betriebsversammlung überraschten die Chefs der Funke-Mediengruppe die WR-Belegschaft, die auf vieles gefasst war, nur nicht darauf, die gesamte Branche und mehr als 100.000 Abonnenten: Alle WR-Redaktionen werden zum Monatsende geschlossen, die 120 Redakteurinnen und Redakteure rausgeworfen, die 180 freien Mitarbeiter stehen hopplahopp auf der Straße. Wie zum Hohn darf die Rundschau als „Zombie“ weiter erscheinen, ohne eigene Redaktion, abgefüllt mit Material von (man muss wohl sagen: ehemaligen) Konkurrenten.

Ein ganz schrecklicher Tag

„Das war ein ganz schrecklicher Tag“, erinnert sich auch Karl Dittrich, knapp zwei Jahrzehnte WR-Fotograf in Unna, zuletzt zum WAZ Fotopool abgeschoben. „Mir kam es vor, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Da sind bittere Tränen geflossen, womöglich auch Existenzen vernichtet worden.“

Was wurde aus den vielen Menschen? „Viele sind noch unversorgt, wissen noch nicht, wie es weitergeht“, sagt Noch-Betriebsratschef Uwe Tonscheidt. „Umso wichtiger sind die Qualifizierungsmaßnahmen.“ Ende Oktober standen nur noch 39 Redakteurinnen und Redakteure auf der Gehaltsliste des Verlags – weil ihre jeweiligen Kündigungsfristen noch nicht ganz abgelaufen sind. Danach könnten auch sie, wie schon andere, für sechs Monate in eine Transfergesellschaft. Mit 90 Prozent des Gehalts.

„Inplace“, so heißt der Anbieter, organisiert für die Gefeuerten spezielle Kurse zur Existenzgründung, zur Öffentlichkeitsarbeit, zu Arbeiten im Netz. „Rund 80 Kolleginnen und Kollegen hatten zum Start der Transfermaßnahmen im Frühjahr Anspruch auf eine Teilnahme, um sich Rüstzeug für eine Zukunft zu holen. Für viele läuft es wohl auf eine Selbstständigkeit hinaus.“ Wie etwa für Bernd Maus und Bernhard Schlütter, die ehemaligen WR-Redakteure aus Plettenberg, die das Printmagazin Komplett für das Sauerland starteten (vgl. JOURNAL 5/13).

Alte Pläne ausgegraben

Mit Mut, aber noch ungewisser Perspektive  wagt auch Mark Sonneborn den Sprung in die Selbstständigkeit. Der ehemalige Pauschalist aus Neuenrade versucht es im Netz. „Als der erste Schock verflogen war, habe ich alte Pläne ausgegraben: eine Online-Zeitung.“ Er gründete den Lennespiegel und berichtet aus Werdohl, Neuenrade und Umgebung. Das volle Programm: Lokalpolitik, Sport bis runter in die niedrigsten Klassen, Polizei-Meldungen, Vereinsberichte. Ein Knochenjob, zumal er zum Broterwerb noch für andere Zeitungen der Funke Mediengruppe über Handball, Fußball und Vereine berichtete: „Die hatten Bedarf.“

Unterm Strich: mehr Maloche als bei der Rundschau. „Sieben Tage die Woche, ich muss mich ab und zu dazu zwingen, Pausen zu machen – sonst gehst Du am Stock“, sagt er. „Pauschalist bei der WR zu sein hat Spaß gemacht. Aber jetzt ist die Motivation noch ein Tick höher. Weil es etwas Eigenes ist.“

Sein Lohn: Inzwischen hat der Lennespiegel mehr als  1.000 Leser pro Tag. Im Moment ist der 36-Jährige ganz besonders stolz: „Ab nächstes Jahr gibt’s bei uns auch den WR-Zombie nicht mehr, dann erscheint hier nur noch der Süderländer Volksfreund, ein Ippen-Blatt. Was mich freut: Die Stadt Neuenrade hat schon jetzt auf ihrer Internet-Seite bei der Aufzählung der Lokalmedien die WR rausgenommen und dafür den Lennespiegel reingesetzt.“

Örtliche Anerkennung, die gut tut. Nur mit den Anzeigenkunden für die Online-Zeitung hapert es noch. „Die Verhandlungen sind schwierig“, klagt Sonneborn. Bis er vom Lennespiegel leben kann, das dauert wohl noch.

Feste & Freie: Soldarität kommt nie aus der Mode

Die Abwicklung der WR-Redaktion traf Feste wie Freie in unterschiedlicher Form: Redakteure haben Kündigungsschutz, ­Anspruch auf Abfindungen und einen Platz in der Transfergesellschaft. Für die Freien war direkt Schicht, immerhin konnte der DJV-NRW für sie eine Abfindung aushandeln. 
Die Schockwelle dieser Verlagsentscheidung ist in der Branche immer noch fühlbar. Außer im öffentlich-rechtlichen Rundfunk dürfte sich kaum ein Redakteur noch richtig sicher fühlen. Und die Freien wurden brutal daran erinnert, wie schmal der Grat zwischen langjähriger guter Zusammen­arbeit und nichts ist.
Und in solchen Zeiten kommt der DJV-NRW mit seiner Kampagne zum FAIRhaltens­kodex? Ist nicht gerade jeder sich selbst der Nächste? Nein, Solidarität kommt nie aus der Mode. Im Gegenteil: Nie war sie wertvoller als jetzt. Auch weil man heutzutage flugs mal die Seiten wechselt – von fest nach frei, von frei nach fest, von Journalismus nach Öffentlichkeitsarbeit ... Wie gut, wenn man da vorher nicht nur die eigenen ­Belange im Blick hatte. Noch besser, wenn viele Menschen einem wohlgesonnen sind. Schließlich kommt der Tipp für die freie Stelle oder den neuen Auftraggeber oft genug von den Kollegen.
Die Kommission Feste-Freie hat in den  vergangenen Monaten jedenfalls unbeirrt an der Kampagne gearbeitet, die jetzt steht. Die Materialien  mit Doppelkeks-Motiv glbt es zum Bestellen als FAIR-Paket. Um Redaktionsräume zu verschönern, Betriebsratsbretter zu dekorieren und bei festen und freien Kollegen für gute Stimmung zu sorgen. /cbl

Das Internet zieht auch andere WR-Ehemalige an. Mal mit und mal ohne kommerzielles Interesse. Alexander Völkel zum Beispiel gründete mit anderen „erfahrenen Journalistinnen und Journalisten“ nun nordstadtblogger.de, vor allem um „Vielfalt in der medialen Einfalt“ in Dortmund zu sichern. Dort gibt’s ja nur noch einen Lokalteil – egal, welchen Zeitungstitel man kauft.

Lauter frische Online-Projekte

Weitere Beispiele: Heino Baues macht intensive Lokalberichterstattung auf bergkamen-infoblog.de. Wolfgang Teipel und Florian Hesse bauen gerade ihr Blog lichtstadt-luedenscheid.de, das anlässlich des „LichtRouten“-Festival 2013 startete, zum breitgefächerten Kultur-Projekt aus: „Gleich ob es um Kunst am Bau, um Literatur, Theater oder um Musik geht.“

Musik steht im Mittelpunkt von tongebiet.de. Andreas Winkelsträter, der mehr als 20 Jahre für die Rundschau über Konzerte, Shows und Veranstaltungen berichtete, gründete nach dem WR-Aus mit den beiden Freien Fenja Volkmann und Uwe Meyer diese Webseite („lesen, was gut zu hören ist“) zur Musikszene vor Ort und in der Region: „In Dortmund und dem Revier gibt’s jede Menge Töne: laute, leise, schrille. Zwischentöne natürlich auch. Wir wollen über die Töne berichten.“ Interviews, CD-Tipps, Vorberichte auf Konzerte und Veranstaltungen, Rezensionen, Band-Portraits – ein spannendes Projekt.

Gekündigt – und was nun? In Unna haben sich Fotograf Karl Dittrich und Desk-Redakteur Lutz Krupka, beide Mitte 50, gemeinsam mit Freunden und Familienmitgliedern einem besonderen Projekt gewidmet: dem Gasthaus Agethen. Dittrich: „Eine Traditionsgaststätte mit großem Saal und dem schönsten Biergarten, den man sich vorstellen kann. Zuletzt mit viel Pech mit den Pächtern.“ Die Truppe renovierte das Gasthaus und eröffnete es neu – zur Freude von ganz Unna.

An zwei oder drei Abenden pro Woche steht Dittrich seitdem hinter der Theke – ein 450-Euro-Job. Zwei Jahrzehnte war er als Fotograf in Unna unterwegs, quasi als Aushängeschild der WR: „Ich kenne zwei Drittel aller Gäste mit Namen und Familiengeschichte“. Er lacht. Die Gäste freuen sich über das stadtbekannte Gesicht am Zapfhahn. „Und, fragen sie oft, ist das jetzt angenehmer als mit der Nikon? Ich antworte dann immer: Nee, anstrengender.“

Dittrichs Tochter hat die Konzession, Krupkas Frau arbeitet auch mit. Und die beiden WR-Ehemaligen helfen, wo sie nur können. Dittrich: „Die WR war einmal viel mehr als nur ein Arbeitsplatz, wie eine große Familie. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass die alle feuern. Na ja, jetzt im Gasthaus haben wir wenigstens auch wieder Familie und Freunde um uns.“

Nahtloser Absprung

Einigen ist der Absprung nahtlos gelungen. Lars Reckermann zum Beispiel, gut ein halbes Jahr vor Toresschluss noch zum Vize-Chefredakteur der WR aufgestiegen, ist inzwischen Chefredakteur bei der Schwäbischen Post (Aalen) und der Gmünder Tagespost (Schwäbisch-Gmünd). Der Dortmunder Lokalchef, Frank Bußmann, kam bei der Pressestelle der Stadt Dortmund unter, Anja Wetter in der Pressestelle der Fernuni Hagen. Wirtschaftsjournalist Jens Helmecke arbeitet jetzt in der Pressestelle des Landesarbeitsministeriums.

Angelika Beuter aus Meschede wurde Pressesprecherin, im Bereich Soziale Netzwerke, für Meschede, Olsberg, Bestwig und das kommunale Versorgungsunternehmen. Die alleinerziehende Mutter ist heilfroh, den Job bekommen zu haben – wenn auch „auf der anderen Seite des Schreibtisches“. In ihrem Blog „Absprung“ (absprung.wordpress.com), in dem sie nach dem Rauswurf Gefühle und Job-Suche beschrieb, stellte sie kürzlich fest: „Vielleicht kommt irgendwann der Punkt, an dem ich sage: Gut, dass ich so früh rausgeworfen wurde. Vielleicht ist dieser Punkt gar nicht mehr so weit.“

Ex-Betriebsrätin Susanne Schulte sagt dem Journalismus adé. Sie schult um – zur Steuerfachgehilfin. Im ZEIT-Dossier „Eingespart“ (2. September) sagte die Dortmunderin: „Für mich war Journalismus ein super Beruf. Aber auf Teufel komm raus diesen Stress mitmachen und womöglich für die Ruhr Nachrichten für 20 Cent die Zeile als Freie arbeiten – nee, das tue ich mir nicht an.“ Sie findet es „klasse, noch einmal etwas ganz Neues anzufangen“, mit Mitte 50.

In Unna muss der zapfende Fotograf Karl Dittrich bald zur Agentur für Arbeit. Er wird Ende Februar, nach Ablauf der Kündigungszeit, endgültig arbeitslos. Der 55-Jährige würde, falls ihm eine Tageszeitung einen Job anbietet, sofort wieder zugreifen: „Mich hat mein Beruf als Fotograf und Redakteur immer stolz gemacht“, sagt er. Und fügt leise hinzu: „Das fehlt mir. Das fehlt mir sehr ...“||

Karlheinz Stannies

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