Deutscher Journalisten-Verband Landesverband Nordrhein-Westfalen

Europa: Wie Medien aus und über Brüssel berichten

Die Europa-Erklärer

Brexit. Flüchtlingskrise. Eurokrise. Terror. Fremdenfeindlichkeit. Lebhafte Zeiten für Journalisten, die sich mit der Europäischen Union befassen. Das Votum der Briten für ein Ende der EU-Mitgliedschaft war aber auch der Startschuss für eine Debatte unter Journalisten und Politikern, welchen Anteil sie am Brexit- Votum hatten. Es geht weniger um den Schwarzen Peter. Vielmehr ums Verstehen, was zu dieser krisenhaften Lage geführt hat. Denn eigentlich sollte Europa ja den Kontinent einen – nach Jahrhunderten nationaler Fehden und fürchterlicher Kriege.

Alle haben versagt. Wir alle. Das sagt zumindest Franco Rota, der nach der Abstimmung am 23. Juni deutschen Medien eine Mitschuld am Brexit gab. „Die Medien haben versagt“, schrieb er im Cicero. „Sie haben es jahrelang versäumt, sich thematisch fundiert der EU zu widmen und so eine europäische Öffentlichkeit zu entwickeln“, kritisiert der Prorektor der Stuttgarter Hochschule der Medien. „Deutsche und auch andere europäische Medien, TV-Formate, Websites oder Zeitungen berichten kaum über den Sinn, den Wert, die Notwendigkeit des Zusammenhalts der EU, deren potenzielle Gegner oder die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Weltpolitik.“

Rota, der früher bei BILD und Bunte geschrieben hat, spitzt seine Kritik polemisch zu: „Nein, die Medienagenda beschäftigt sich – ganz wie ein Schoßhündchen der Mächtigen – viel häufiger mit der Dringlichkeit von transnationalen Weltproblemen, die immer nur gemeinsam mit vielen anderen Staaten gelöst werden müssen, anstatt mit der oder in der Europäischen Union selbst.“

Der Neusser Eric Bonse, der für die taz und das Magazin Cicero aus Brüssel über Europa schreibt, beklagt, dass deutsche Kolleginnen und Kollegen dort (genau wie die Korrespondenten der meisten anderen Mitgliedsstaaten) durch die nationale Brille auf Europa schauten. Obwohl ein mehrdimensionales, europäisches Gesamtbild mit diversen, oft widersprüchlichen Interessen und Perspektiven „Basis für eine differenzierte Berichterstattung sein“ könnte, bestehe an einer solchen Arbeit mit „europäischer Brille“ kaum Interesse. Rota streut noch etwas mehr Salz in die offene EU-Wunde: „Es sind auch die britischen, die deutschen, die europäischen Medien, die mitverantwortlich sind für den Niedergang der Idee eines Europas.“

Keine gemeinsame Öffentlichkeit

Auch anderen ist die Berichterstattung aus und über Brüssel ein Dorn im Auge. „Eigentlich müssten große Verlage doch den Ehrgeiz haben, eine wirklich europäische Zeitung herauszubringen“, erklärte im August Wolfgang Clement, „Sozialdemokrat ohne Parteibuch“, Journalist und früherer NRW-Ministerpräsident. Im Interview des Branchendienstes Meedia zeigte er sich überzeugt: „Ohne eine europäische Öffentlichkeit wird das nichts mit dem gemeinsamen Europa.“

Eine europäische Öffentlichkeit? „Die kriegen wir nicht hin“, sagt dagegen Rolf-Dieter Krause im Gespräch mit dem JOURNAL. Krause, der „Europa-Erklärer“ der ARD aus dem Bonner DJV-Ortsverein, ist am 1. August nach mehr als zwei Jahrzehnten EU und Brüssel in Rente gegangen und lebt nun in Berlin. Für eine europäische Öffentlichkeit liegen die Interessen der Medien in Europa nach Krauses Einschätzung einfach zu weit auseinander. Das habe sich ja schon bei den Entscheidungen um den Irak- Krieg und die Euro-Krise gezeigt.

Zweifel am derzeitigen Zustand der Staatengemeinschaft hat auch Eric Bonse, wie sein Credo zeigt: „Ich bin Europäer, aber dies ist nicht mein Europa“. Seine Ansichten über die EU publiziert Bonse in seinem Blog „Lost in EU“. Der ehemalige Handesblatt-Redakteur kennt die „Brüsseler Blase“ gut. Darin befinden sich nicht nur die Journalisten, sondern auch die Politiker und EU-Bürokraten aus den noch 28 Mitgliedsstaaten Europas.

Für Journalisten ist Brüssel auf den ersten Blick „ein Paradies“. Und Bonse zählt auf: Mehr als 1 000 fest akkreditierte EU-Korrespondenten, 28 Mitgliedstaaten mit dutzenden Pressesprechern, tägliche Briefings in der EU-Kommission. In der EU-Hauptstadt „gibt es zu jedem Thema viele Blickwinkel. Jede nationale Sichtweise lässt sich durch die Brille eines anderen EU-Landes brechen. Jede offizielle Vorlage muss sich in 28 Ländern bewähren“, beschreibt er Anfang dieses Jahres in einem Beitrag für das Medienportal Übermedien den EU-Alltag. „Einheit in Vielfalt – das offizielle Motto wird in Brüssel täglich gelebt.“

Wo entschieden wird

Dass im Brüsseler Macht-Dreieck aus Parlament, Kommission und Ministerrat zwar seit Jahrzehnten wichtige Entscheidungen getroffen werden, dass sich aber eben „keine multidimensionale, europäische Öffentlichkeit entwickelt“, kritisiert nicht nur Clement. Die EU-Kenner Krause und Bonse bedauern das ebenso. Und auch der Medienexperte Stephan Russ-Mohl sagt: „Eine europäische Öffentlichkeit gibt es bisher nicht, erst recht gibt es keinen europäischen Journalismus.“

Russ-Mohl ist Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano und Gründer des European Journalism Observatory (EJO), das beim Erich Brost-Institut in Dortmund angesiedelt ist. Für das EJO sezierte er vor zwei Jahren, wie stark der europäische Journalismus auf supranationaler Ebene nach Nationen segmentiert ist. Heute klingt geradezu prophetisch, was Russ- Mohl damals vorschlug, um Europa wieder in die Spur zu bringen: „Erstens gilt es, auf europäischer Ebene ein Demokratie-Defizit zu beseitigen:

Exekutive und bürokratische Apparate wachsen, ja wuchern, die parlamentarische Kontrolle und auch die Bürgerbeteiligung funktionieren dagegen höchst unzureichend. Zweitens fehlt es an einer funktionierenden ‚vierten Gewalt’, an einem unabhängigen, distanzierten Journalismus, der mit hinreichender Recherchekapazität ausgestattet ist und das europäische Projekt wohlwollend-kritisch begleitet.“

Europa im DJV

Über die Mitgliedschaft in internationen Journalistenorganisationen wie IJF und EJF ist der Deutsche Journalisten-Verband in Europa und darüber hinaus gut vernetzt und behält die Entwicklungen in anderen Ländern im Auge. In der Bundesgeschäftsstelle betreut Michael Klehm das Referat Internationale Beziehungen. Auch der DJV-Bundesvorsitzende Frank Überall widmet internationalen Themen hohe Aufmerksamkeit, aktuell vor allem der Medienfreiheit in der Türkei. Kurz vor dem Putsch-Versuch hatte er dort Redaktionen und oppositionelle Journalisten besucht. Nach einer wachsenden Zahl von Zeitungsschließungen und Verhaftungen von Journalistinnen und Journalisten hat der DJV Asyl für politisch verfolgte Kollegen aus der Türkei gefordert.

Auf Ebene der Gremien befasst sich der Bundesfachausschuss Europa mit der bedrohten Pressefreiheit nicht nur in EU-Mitgliedsstaaten. Medienpolitische Brandherde sind zum Beispiel in Polen, Ungarn und Südosteuropa auszumachen, in der Ukraine oder der Türkei. Der wachsende Handlungsbedarf stellt nicht nur den Fachausschuss vor Herausforderungen, sondern den DJV. Steffen Heinze aus Bonn, der NRW-Vertreter im FA Europa, spürt auch als Journalist bei der Deutschen Welle, wie nah die verschiedenen nationalen Krisen sind: Bei der Arbeit erfährt er „die zunehmende Bedrohung der Medienfreiheit in Europa unmittelbar über Kolleginnen und Kollegen in den jeweiligen Redaktionen, wie zum Beispiel in der Türkisch- Redaktion“./whi/cbl


Einen Versuch gab es Den Versuch einer verlegerischen und journalistischen Antwort auf die EU-Strukturen hat es vor neun Jahren immerhin gegeben: Die damalige WAZ-Gruppe (heute Funke Mediengruppe) eröffnete ein Korrespondentenbüro in Brüssel mit Reportern der damals noch vier Ruhrgebiets- Zeitungen sowie mit Kollegen der WAZ-Titel aus Kroatien, Rumänien, Mazedonien, Serbien und Bulgarien. Das Büro lieferte tagesaktuelle Berichterstattung an die angeschlossenen Redaktionen, ergänzt um gemeinsam erarbeitete Hintergrund- und Exklusivberichte zu EU und Nato. Arbeitssprache war Englisch. Die Texte wurden den Heimatzeitungen in der jeweiligen Landessprache und passend zu den Zeitungsformaten angeboten.

Mit dem Niedergang des südosteuropäischen WAZ-Imperiums verschwand auch dieses Angebot. Geblieben ist nur der damalige Leiter des internationalen Korrespondentenbüros: Knut Pries, den die Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Europäischen Union unter der Zuordnung „Funkemedien“ noch in der Liste der deutschsprachigen Journalisten in Brüssel führt. Die Zusammenstellung der Medienvertreter zeigt, dass nur noch wenige, vorwiegend überregionale Tageszeitungen eigene Korrespondenten entsenden. Der Rest kommt von Agenturen, Zeitschriften, Wochenzeitungen und den großen Sendern – mit einem deutlichen Übergewicht bei den öffentlich- rechtlichen.

„Die deutschen Medien haben sowohl die britische Rolle in der EU als auch die deutsch-britischen Beziehungen rosarot gemalt“, wirft Bonse im Gespräch mit dem JOURNAL den Kollegen in Sachen Brexit vor. Die Medien hätten Probleme „systematisch ausgeblendet“. So habe in der deutschen Berichterstattung selbst Camerons Bemerkung auf seinem letzten EU-Gipfel, Merkels Flüchtlingspolitik habe seine Sache erschwert, nicht stattgefunden. Es ist eines von vielen Beispielen für Bonses These, dass deutsche Medien nur durch die deutsche Brille auf Europa schauten. „Am Ende gewinnt immer Merkel“, fasst Bonse diesen Vorwurf zusammen.

Die deutschen Journalisten sind damit nicht allein. Die Art der EU-Berichterstattung mit nationalen Vorzeichen scheint ein europäisches Phänomen zu sein. Denn „deutsche, britische und französische Journalisten sprechen zwar miteinander“, diagnostiziert Bonse, „tauschen im Plauderton Informationen und Einschätzungen aus. Doch am Ende schreiben sie doch wieder deutsche, französische oder britische Artikel – mit der entsprechenden nationalen Brille.“

 

Kollegiales Miteinander

Auch Rolf-Dieter Krause lobt das kollegiale Miteinander der Journalistinnen und Journalisten in Brüssel. Vernachlässigt habe die ARD das Thema Europa nicht, findet Krause, der wenige Tage nach seinem Wegzug aus Brüssel konsequent in der Vergangenheitsform spricht: „Wir haben Brüssel immer sehr ernst genommen. Europa ist ein schwieriges Konzept.“ Mit ihren Themen seien er und seine Kollegen des Studios Brüssel aber meist durchgekommen. Nur halt nicht immer in den Hauptnachrichten-Sendungen, sondern zum Beispiel mit längeren Berichten im Europa-Magazin am Sonntagmittag.

Wolfgang Clement ist weniger zufrieden mit den öffentlich-rechtlichen Sendern. Der 76-Jährige, Ex-Chefredakteur der Westfälischen Rundschau und der Hamburger Morgenpost, fragte im erwähnten Meedia-Interview: „Wieso schaffen öffentlich- rechtliche Anstalten den europaweiten Zusammenschluss, um einen Gesangswettbewerb auf die Beine zu stellen, nicht aber eine grenzüberschreitende Kooperation, um ein oder zwei wirkliche europäische Vollprogramme über die Rampe zu bringen?“ Daraus leitet Clement eine Forderung an den Journalismus ab: „Das ist in Wahrheit eine Aufgabe ersten Ranges – eine europäische Öffentlichkeit wäre die beste Antwort auf einen wieder aufkeimenden Nationalismus.“

Rückkehr der Klischees

Der Medienwissenschaftler Russ-Mohl hatte schon vor zwei Jahren festgestellt: „Selbst wenn in den letzten Jahren ereignisbedingt mehr über die EU und die jeweiligen europäischen Nachbarländer berichtet wurde, so hat die Kompetenz der Berichterstattung oder gar deren aufklärerisch- kritische Qualität gewiss nicht zugenommen.“ Es klingt fast schon resignativ, wie Russ-Mohl feststellt: „Krisenbedingt brachen europaweit Nationalismen, Klischees und Stereotype in den Medien durch, wie wir sie eigentlich nicht mehr für möglich gehalten hätten.“

Die Analyse ist immer noch richtig. Während der Griechenland-Krise im vorigen Jahr hatte die Stuttgarter Zeitung die Hitlerbärtchen oder Hakenkreuz-Armbinden in Fotomontagen und Karikaturen zum Thema gemacht und mit dem Hamburger Europa- und Gesellschaftsforscher Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen gesprochen. Der Griff in die Klischee- Kiste ist nach seiner Ansicht ein gängiges Mittel, um komplizierte Sachverhalte darzustellen: „Die meisten mächtigen Länder polarisieren auf diese Weise. Man liebt oder man hasst sie. Eine gleichgültige Haltung ist dagegen eher selten.“ Und die Medien und ihre Macher meist mit ihnen – wie sich beim Thema Griechenland zeigte.

Trotzdem muss man die „nationale Brille“ nicht als Vorwurf sehen, findet Rolf-Dieter Krause. Er deutet sie als Handwerk: „Ich möchte nicht bei der deutschen Brille stehen bleiben, aber immer damit anfangen.“ Denn der Journalist müsse das Publikum stets abholen, wo es ist. Aber, und das ist Krause ganz wichtig, „dann das andere erzählen.“

Da schimmert der Rolf-Dieter Krause durch, der in Unna, Hamm und Kamen als Printjournalist im Lokalen angefangen hat. Der seine Ausbildung in den 1960er Jahren noch in Düsseldorf von der Deutschen Gesellschaft für Publizistik bekommen hat, dem Vorläufer des heutigen Journalistenzentrums Haus Busch in Hagen. Der als großes Vorbild seinen damaligen WAZRedaktionsleiter Udo Heinze nennt, „ein Kumpel“. Dort hätten sie damals als Redaktionskollektiv mit seriösem Enthüllungsjournalismus „ziemlich viel Wirbel“ gemacht.

Wie das ausgesehen hat, lässt sich im WDR-Abschiedsporträt des ARD-Brüssel-Korrespondenten Christian Feld über den Kollegen Krause betrachten. Da sagten unter dem Titel „Europa, was nun?“ nicht nur Udo Heinze, sondern auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, EUParlamentspräsident Martin Schulz und Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in die Kamera, was sie von der journalistischen Arbeit des Leiters des ARD-Europastudios halten, der Krause eineinhalb Jahrzehnte war. Es ist ein bemerkenswert Rückblick geworden – gleichermaßen mit journalistischer Distanz und Nähe zu einem Kollegen.

Die befragten Politiker in dem filmischen Porträt schätzen und loben die Sach- und Fachkenntnis von Krause. Der gesteht im Gespräch: „Ich hab’ nicht gerne aufgehört. Brüssel war der Eimer, auf den mein Hintern passte.“ Aber Krause hat jetzt den Schnitt gemacht. „Ich war 21 Jahre ein rundum privilegierter Mensch“, sagt er über seine Arbeitszeit in Brüssel. Vielleicht auch, weil er so lange an den EU-Themen dranbleiben konnte. Krause spricht vier Sprachen: Neben Deutsch auch Englisch, Französisch und Niederländisch. „Man redete miteinander, soweit die Sprachen reichten.“ Es habe lange gedauert, bis er sich in der EU habe originäre Quellen erschließen können. Auf die beste sei er erst nach acht Jahren gestoßen. Rolf-Dieter Krause glaubt, dass Brüssel Journalisten Angst macht, „weil man da arbeiten muss“.

Immer sauber getrennt

Ähnlich wie Eric Bonse tritt auch Krause für die Idee eines geeinten Europas ein. Und er hat darauf geachtet, sauber zu trennen – Bericht vom manchmal knallharten Kommentar. „Ich bin in meinem Journalistenleben immer sehr formbewusst gewesen.“ Seine Meinung hat Krause auch in Talkshows vertreten: „Da darf man saftiger argumentieren und streiten.“ Das konnte man zum Beispiel Mitte vorigen Jahres in Plasbergs Talkshow „Hart, aber fair“ sehen, als Krause in einer vielbeachteten Debatte zur Euro- Krise harte Worte für das Handeln der griechischen Syriza-Regierung um Regierungschef Tsipras und Finanzminister Varoufakis fand, die „Europa am Nasenring durch die Manege“ führten. Die „armen Menschen in Griechenland“ müssten jetzt dafür bluten. „Mir sind die Menschen in anderen Ländern nicht egal“, verteidigt er im Rückblick seine Position.

Nicht alle Journalisten, die von EU-Standorten aus für deutsche Sender und Verlage arbeiten, haben Arbeit- bzw. Auftraggeber wie Krause. Der WDR-Mann gibt zu: „Unter meinen Bedingungen war Brüssel wunderbar.“ Russ-Mohl beschreibt in seiner Analyse eine andere Wirklichkeit: „Die Korrespondentenbüros sind ausgedünnt, die zahlreichen Einzelkämpfer unter den Brüsseler Journalisten können der geballten Übermacht der EU-Bürokratie und den hochprofessionellen Lobbying- und PR-Aktivitäten in deren Vorfeld kaum standhalten.“

Dabei kann die EU-Berichterstattung Bürger beeinflussen, wie eine aktuelle Studie der Hans- Böckler-Stiftung zeigt. Kim Otto, Professor für Wirtschaftsjournalismus aus Würzburg, und sein Kollege Andreas Köhler haben untersucht, wie die deutschen Medien über die Griechenland- Krise berichtet haben, und sie attestieren ihnen Unausgewogenheit. „Der europäische Konflikt wurde in der deutschen Medienöffentlichkeit zu einem binationalen Konflikt“, stellen sie fest. Ihr Beleg: Während der Verhandlungen war innerhalb eines halben Jahres ein massiver Meinungsumschwung in der deutschen Bevölkerung zu beobachten. Im Januar 2015 sprachen sich 55 Prozent der Deutschen für einen Verbleib Griechenlands im Euro aus und 33 Prozent dagegen, im Juni 2015 wollten nur noch 41 Prozent, dass Griechenland die Gemeinschaftswährung behält, 51 Prozent waren dagegen. Diesen Meinungsumschwung zeigten Umfragen der Forschungsgruppe Wahlen für das ZDF-Politbarometer. Die Würzburger Wissenschaftler zogen ein bitteres Fazit für die journalistische Praxis: Aus der „Auflösung der Trennung von Nachricht und Meinung, einer zunehmenden AkteursorientieÜberrung und einer Politisierung des Wirtschaftsjournalismus“ ergeben sich nach ihrer Einschätzung „Gefahren für dieses Ressort“.

Viel Aufwand für die Kommunikation

Den Journalisten mit ihrer jeweiligen nationalen Brille steht der große Aufwand gegenüber, den die oft gescholtene Europäische Kommission in der Öffentlichkeitsarbeit betreibt. Sie unterhält in allen Mitgliedstaaten der EU Vertretungen, die den Bürgern Europas das europäische Geschehen näherbringen sollen. Die Vertretung in Deutschland ist in Berlin angesiedelt, mit Regionalvertretungen in Bonn und München. Das jährliche Kommunikationsbudget der deutschen Kommissionsvertretungen liegt bei 3,63 Millionen Euro.

Allein in Berlin laufen pro Tag etwa zehn bis 15 Anfragen von Journalisten zur EU auf, erklärt Pressereferentin Claudia Guske vom siebenköpfigen Team unter Leitung von Pressesprecher Reinhard Hönighaus. Macht pro Jahr bis zu 4 000 Anfragen. Grob geschätzt. Zudem werden von Berlin aus die sozialen Medien bestückt: der Facebook-Kanal mit 50 000 Likes, der Twitter-Kanal @EUinDE sowie der Newsletter mit gut 12 000 Abonnenten.

Der Berliner Pressesprecher Hönighaus hat als Schüler für den Soester Anzeiger geschrieben und war vor seinem Wechsel zur EU bei der Financial Times Deutschland als Korrespondent in Brüssel. Über seine Rolle als Öffentlichkeitsarbeiter sprach er im Mai in einem Interview des PR-Magazins: „Brüssel macht nicht alles richtig, aber Brüssel macht auch vieles richtig, was einzelne Regierungen falsch machen würden, wenn es Brüssel nicht gäbe. Wenn hier in Deutschland etwas Falsches über Brüssel erzählt wird, dann melden wir uns lautstark, dann widersprechen wir.“

Das Bonner Büro der EU-Vertretung betreut die Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland. Bei ihnen würden überwiegend regionale Themen abgefragt, etwa Konkretes zur EU-Förderung. Oder zu wettbewerbsrechtlichen Untersuchungen bei staatlichen Beihilfen. Hier bei Kerstin Streich und ihrer Kollegin gehen etwa fünf Journalisten- Anfragen pro Woche ein.

Die Pressereferentin findet, dass ihr das Internet und der Auftritt der Europäischen Kommission das Arbeiten in gewisser Hinsicht erleichtert. Viele Informationen, die früher zu Europa angefragt wurden, finden Journalisten heute gleich im Netz. Im Gegenzug bestimmen heute kompliziertere und rechercheintensivere Anfragen rund um Europa den Alltag der beiden Pressevertreterinnen in Bonn.

„Mistkäfer im Wald“

Die manchmal bequemen Unterstützungsangebote der EU-Institutionen kann man auch als Vereinnahmung sehen. Rolf-Dieter Krause hat gegen diese Informationsübermacht immer auf Haltung gesetzt. So wie er die Rolle der Journalisten und ihre Beziehung zum Gegenstand ihrer Berichterstattung immer reflektiert hat.

In seiner Zeit vor dem WDR war er vom DJVVerbandstag in den Deutschen Presserat gewählt worden, dem er von 1979 bis 1985 angehörte. Als Journalist habe er sich stets als „Mistkäfer im Wald“ gesehen, sagt Krause. Ende der 1970er Jahre brachte ihm das einen Wächter-Preis ein: „Der Preis hat mich sehr stolz gemacht – bis heute.“

Dass Stimmung gegen Europa gemacht wird, ist für ihn nichts Neues: Es habe immer Journalisten gegeben, sagt Rolf-Dieter Krause, die sich beispielsweise über europäische Normierungen wie über den Krümmungsgrad der Gurke „ beömmelt“ haben. Geschürt haben sie damit Ressentiments gegen die EU-Bürokratie – und sich damit letztlich nicht anders verhalten als britische Brexit-Befürworter wie Boris Johnson, ehemaliger Zeitungsjournalist (The Times) und heutiger Nach-Brexit-Außenminister.

Wie beim Brexit vergessen viele EU-Bürger und auch Journalisten aber jenseits berechtigter Kritik offenbar, dass sie mit ungerechtfertigten Zuspitzungen an den Grundfesten dieser Gemeinschaft demokratischer Staaten rütteln. Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit sind gemeinsame Werte in der EU, die bislang immer noch für alle Bürger gelten sollten. Aber dann sind da die EU-Mitgliedsstaaten Ungarn und Polen mit ihren autoritären Regierungen, die gerade Journalisten knebeln und versuchen, die Meinungsfreiheit in EU-Mitgliedsstaaten auszuhebeln.

Kein Wunder, dass da der dienstälteste Außenminister in der EU, der Luxemburger Jean Asselborn, Mitte September dieses Jahres mal ganz undiplomatisch der Kragen platzte. Asselborn forderte im Interview in der WELT EUGrundwerte ein: Wer wie Ungarn Zäune gegen Kriegsflüchtlinge baue oder die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verletze, „der sollte vorübergehend oder notfalls für immer aus der EU ausgeschlossen werden“.

Das Gute in der Krise

In der gegenwärtigen Krise wird das Konstrukt Europa auch fernab von Brüssel wieder öffentlich verhandelt. Selbst wenn kaum jemand, wie Eric Bonse beklagt, dabei die „europäische Brille“ aufsetzt. Aber wenn es jemand tut – wie etwa jüngst im Sommer die 3sat-Kulturzeit –, dann kann schon Sehenswertes dabei herauskommen. In fünf Folgen setzten sich Autoren mit der EU und der Idee eines geeinten Europas auseinander. Das lakonische Fazit von Kulturzeit-Moderator Ernst A. Grandits: „Es wurde noch nie so viel über Europa gestritten und erzählt.“ Stimmt. Und so wohlwollend-distanziert gesehen, haben die europäischen Krisen auch ihr Gutes. Nicht nur für die Auftragslage der EU-Journalisten in Brüssel, sondern auch für Europa.||

Werner Hinse

 

JOURNAL 5/16

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